„Esst doch was ihr wollt!” heißt das durchaus lesenswerte Buch von Ernährungswissenschaftler Uwe Knop. Schön wärs! Sie lassen mich ja nicht!
Vorbei sind die Zeiten, in denen die Frage, ob es denn auch schmeckt, das einzige ist, was einen nicht in Ruhe essen lässt. Die Entscheidung, wie man sich ernähren möchte, war noch nie so einfach und so kompliziert wie heute. Wir leben in einem Land, in dem wir recht unkompliziert Zugriff auf so ziemlich alles haben, was Herz und Zunge begehren, und wir machen von diesem Angebot reichlich Gebrauch. Es war nie einfacher.
Doch jeder, der dazu in der Lage ist, unfallfrei eine Gabel zu benutzen, fühlt sich berufen, einen Artikel, ein Buch oder ein Weblog zum Thema Ernährung zu verfassen, oder auch einfach nur die Ernährungsweise anderer Menschen ausführlich zu kommentieren. Es war nie komplizierter.
Ich esse normal und das ist auch gut so! – die demonstrativen Omnivoren
Es ist wirklich toll, normal zu sein! Zumindest beschleicht einen dieses Gefühl, wenn man liest wie angeblich normale Menschen ihre Normalität feiern. So als sei Normalität eine Errungenschaft, auf die sie zu recht stolz sein dürften. Die meisten unserer Leserinnen und Leser sind nicht normal, denn sie sind Patienten.
Eingebildete Patienten versteht sich, Hypochonder, Hysteriker – wie wir allen möglichen mehr oder weniger humorigen Artikeln aus Print- und Onlinemagazinen entnehmen können. So wünscht eine Verwaltungsfachangestellte angehende Heilpraktikerin für Psychotherapie ihren Gästen im Wissenschaftsmagazin “Brigitte” Pest und Cholera an den Hals, aus Frust über ihre schlecht vorbereitete Grillparty und ein oberflächlich recherchierter Artikel der “Zeit” zeigt auf, dass ja in Wahrheit nur wenige an einer Nahrungsmittelunverträglichkeit leiden würden und liefert die Zahlen der Zöliakiebetroffenen gleich mit: Zwischen 0,1% und 1% der Bevölkerung sei betroffen. Ach, tatsächlich? Thank you, Captain!
Unterschlagen wird hier, dass sich diese Zahlen lediglich auf die Diagnosen mit Hilfe klinischer Symptome beziehen, nicht auf serologische Screenings. Um diesen Unterschied zu verstehen, muss man wissen, dass in 80 bis 90% der Fälle die Erkrankung mit atypischen Symptomen oder völlig symptomfrei verläuft. Erschwerend kommt hier hinzu, dass die Zöliakie bei weitem nicht die einzige Erkrankung ist, die mit diversen pflanzlichen Proteinfraktionen beziehungsweise den daran gekoppelten ganzen Proteinen assoziiert wird. Bisher haben wir aus wissenschaftlicher Sicht allenfalls ein Grundverständnis von der Interaktion der mit der Nahrung zugeführten Stoffe mit unserem Gastrointestinaltrakt und dem damit verbundenen Einfluss auf das Immunsystem. Zöliakie als einzig akzeptable Begründung für eine glutenfreie Ernährung darzustellen, ist daher falsch, weil hier wesentliche Faktoren ausgeklammert werden.
Immunologische oder autoimmunologische Erkrankung zu erkennen, erweist sich für erfahrene Mediziner oft als schwierig, für Sommerlochjournalist*innen und Kommentator*innen sozialer Netzwerke, scheint die Diagnostik jedoch keine große Herausforderung darzustellen.
Nach kurzer Blickdiagnose, die auch problemlos online durchgeführt werden kann, steht fast schon triumphierend fest: Die Patienten sind physisch kerngesund, sie haben vielmehr Orthorexie – also eine Essstörung!
Hierbei handelt es sich hingegen tatsächlich um keine reale Erkrankung. Sie wurde nie wissenschaftlich beschrieben, es liegt keine Operationalisierung des angeblichen Krankheitsbildes vor. Die WHO sah daher bisher keine Veranlassung, diesen Begriff in das wichtigste medizinische Diagnoseklassifikationssystem ICD aufzunehmen. Orthorexie ist nicht Bestandteil evidenzbasierter Medizin.
Dass eine exzessive Selbstbeobachtung des eigenen Symptombildes aber durchaus bizarre und sogar pathologische Züge annehmen kann, ist ebenso wahr wie die Tatsache, dass chronische Erkrankungen für die meisten Betroffenen auch psychologische Beschwerden mit sich bringen können. Jede Therapie sollte diese Aspekte mit einbeziehen. Der Umkehrschluss jedoch, allen Menschen eine psychische Störung zu attestieren, die sich dazu entschließen bei der persönlichen Nahrungsmittelauswahl ganz bestimmte Stoffe zu meiden, ist nicht nur anmaßend, sondern auch unwissenschaftlich. Wer alles beschwerdefrei essen kann, hat einfach Glück gehabt. Nicht mehr und nicht weniger.
Es ist gut und richtig nicht jedem neuen Ernährungstrend hinterher zu jagen. Es ist nicht gut und auch nicht richtig, die Entscheidungen über die eigene Nahrungsmittelauswahl von etwas anderem abhängig zu machen, als vom eigenen Bauchgefühl. Auch nicht von den Hobbypsychologen der Kommentarspalten oder den selbsternannten Ernährungsexperten der YouTube-Universität. Lasst euch von niemandem ins Essen quatschen, der noch nie in euren Schuhen laufen musste!
Ich bin verantwortungsbewusst und esse auch so! – die aufgeklärten Besseresser
Entgegen der weitverbreiteten Annahme, ist Ernährung keine ethische Entscheidung. Kaufentscheidungen können durchaus politisch motiviert sein, was Menschen tatsächlich essen, hat jedoch weder einen positiven noch einen negativen Einfluss auf das Leid in der Welt. Dennoch schreit es uns tagtäglich aus allen Medien entgegen, die individuelle Nahrungsaufnahme jedes einzelnen habe etwas mit Ethik zu tun.
Egal, ob wir über Palmöl oder Soja lesen, über Fleisch und tierische Erzeugnisse – all das hat nicht im geringsten etwas mit Ethik oder Moral zu tun. Denn nicht das Produkt selbst ist hier das Problem, sondern die vermeintlichen Missstände in der Produktionskette. Wir als Verbraucher haben allerdings die Wahl, von welchen Unternehmen wir kaufen wollen und von welchen nicht.
Dass preiswerte Dosentomaten in deutschen Supermärkten mit Hilfe des mafiakontrollierten Sklavenhandels geerntet werden, ist nicht die Schuld der Tomate. Es wäre also absurd zu sagen, es sei grundsätzlich unethisch, Tomaten zu essen, solange es Tomaten gibt, die unter menschenwürdigen Arbeitsbedingungen produziert wurden. Und ebenso absurd wäre es zu behaupten, sämtliche tomatenproduzierenden Betriebe seien automatisch Sklavenhalter oder Menschenhändler.
Diese Argumentation scheint allerdings nicht absurd genug zu sein, wenn es um tierische Erzeugnisse geht: Es sei grundsätzlich unethisch, Fleisch, Milch oder Eier zu verzehren, weil man damit grundsätzlich ausbeuterische Haltungsformen unterstützen würde. Diese Annahme ist jedoch grundfalsch.
Unbestritten ist, dass es tatsächlich zweifelhafte Haltungsmethoden gibt. So ist zum Beispiel die Anbindehaltung stark umstritten, weshalb sie bereits jetzt von tiergerechteren Haltungsformen wie Boxen- oder Tieflaufställen, in denen sich die Tiere in individuell ausgestalteten Zonen frei bewegen und auch miteinander interagieren können, weitgehend verdrängt wurde. Vor allem bei der Produktion von sogenannter “Weidemilch” wird die Anbindelhaltung jedoch noch praktiziert, was auch und gerade die zertifizierten Biobetriebe im deutschsprachigen Raum betrifft; mit einem vollumfänglichen Verbot der dauernden Anbindehaltung ist wenn überhaupt jedoch erst 2020 zu rechnen, ein geplantes Verbot dieser Haltungsform seitens der EU konnte nach heftigen Protesten der Biobauern nicht durchgesetzt werden. In der konventionellen Tierwirtschaft ist diese Haltungsform hingegen jedoch stark rückläufig, da bei Stallneubauten tiergerechte Standards eingehalten werden müssen.
An diesem Beispiel wird klar, dass es absurd wäre, zu behaupten es sei grundsätzlich unethisch, tierische Erzeugnisse zu essen, solange es tierische Produkte gibt, die unter tiergerechten Haltungsbedingungen produziert wurden. Und ebenso absurd wäre es zu behaupten, sämtliche Betriebe mit Tierwirtschaft, seien automatisch Tierausbeuter oder Tiermörder.
Dennoch lesen und hören wir diese Behauptungen beinahe täglich und eine “tierfreie” Ernährung gilt als die höchste Form der ethisch korrekten Lebensweise. Vergessen wird hier, dass es unmöglich ist, “tierfrei” zu essen. Selbst eine rein pflanzliche Ernährungsweise erfordert die Erzeugnisse der Tierwirtschaft, das ist ein physikalisches Gesetz, das niemand zu brechen vermag.
Es ist gut und richtig auf die Herkunft der eigenen Lebensmittel zu achten. Es ist nicht gut und auch nicht richtig, die Entscheidungen über die eigene Nahrungsmittelauswahl von etwas anderem abhängig zu machen, als vom eigenen körperlichen und seelischen Wohlbefinden. Auch nicht von vermeintlich ethischen, ideologischen oder religiösen Speisegesetzen. Lasst euch von niemandem ins Essen quatschen, der das Gegenteil behauptet!
Ich bleibe gesund und ernähre mich auch so! – die ganzheitlichen Functional Fooder
Gesund muss es sein! Ist es lecker, hat es garantiert einen Haken. Zu dieser Überzeugung gelangt man schnell, liest man Empfehlungen, man solle doch lieber an einem tollen Selleriestängel knabbern als an einem deftigen Burger. Den Menschen, die den Stängel lieber in Verbindung mit einer guten Bloody Mary genießen und allein beim Gedanken an Grünfutter bereits Magenschmerzen bekommen, vergeht da schnell die Lust. Aber wenn es doch so gesund ist?
Die provokante Aussage, Ernährung könne uns weder krank noch gesund machen, ist natürlich überzogen. Der tägliche Genuss gehäckselter Küchenabfälle unter der griffigen Bezeichnung “Green Smoothie” macht uns langfristig ebenso zweifelsfrei krank wie der Versuch einer rein pflanzlichen Ernährung. Natürlich kann uns krank machen was wir uns zuführen, noch mehr sogar, was wir weglassen: salz- oder fettarme Kost führt zu nicht zu unterschätzenden Problemen. Trotzdem bleibt es eine Tatsache, dass wir als Allesfresser eine sehr hohe Junk Food Toleranz haben.
Nichts macht uns von heute auf morgen krank, wenn wir es vorher nicht schon waren!
Genau das suggerieren aber sämtiche Empfehlungen, es regiert die Angstmacherei. Täglich lesen wir [BELIEBIGES LEBENSMITTEL EINSETZEN] sei krebserregend, der Konsum von diesem oder jenem Genussmittel führe zu Übergewicht, Fußpilz oder Autismus.
Die Empfehlungen werden hier immer widersprüchlicher: Sobald darüber publiziert wird, dass Milch nicht nur ein guter Calciumlieferant sei, sondern auch über ein hervorragendes Fettsäureprofil verfüge, steht unverzüglich jemand bereit, der wissen will, dass Milch gefährlicher Calciumräuber und überhaupt nicht “artgerecht” wäre. Widersprüche dieser oder anderer Art finden sich sogar oft von den selben Autoren und jegliche Gegenthese wird unter dem völligen Verzicht irgendwelcher wissenschaftlichen Quellen abgebügelt: Stimmt nicht, weil isso!
Gerade diese Abwesenheit jeglicher wissenschaftlichen Evidenzen scheint solchen Meldungen erst den richtigen Anstrich zu verpassen. In einer deutlich wahrnehmbar wissenschaftsfeindlichen Grundstimmung dieser übersättigten Gesellschaft versetzen pseudowissenschaftliche Hypothesen regelrecht in Verzückung.
So rät die AOK nach wie vor zu “5 am Tag”, um die Krebsgefahr zu bannen, obwohl nachgewiesen, dass die Kampagne außer den damit betrauten Agenturen ihren verdienten Lebensunterhalt, niemandem etwas gebracht hat. Immerhin wird der Text “regelmäßig fachlich geprüft durch die DGE.” Die selbe DGE, die sich auf Studienergebnisse aus den 50er Jahren bezieht und der oben verlinkten UGB in nichts nach steht, halten doch beide tapfer an den vom Rassenhygieniker Kollath erfundenen und aus wissenschaftlicher Sicht nicht haltbaren Ernährungslehren der Vollwert-Ernährung fest. Nichts scheint verschwurbelt genug, als dass es nicht von unseren Krankenkassenbeiträgen finanziert werden könnte, während die Budgets evidenzbasierter Medizin immer weiter beschnitten werden.
Wir lernen, was wir über gesunde Ernährung wissen müssen, lernen Fett und Fleisch zu fürchten, bekommen bunte Pyramiden, Kreisdiagramme, Ernährungsuhren und jede Menge Do’s & Don’ts mit auf den Weg. Wir werden über “alternative Ernährungsformen” aufgeklärt, man zeigt uns die fünf Säulen der Anti-Krebs-Ernährung und warnt vor den fünf riskantesten Lebensmitteln der Welt, ungeachtet der Tatsache, dass ein Großteil der Welt von diesen Lebensmitteln lediglich träumen darf. In der Zahl Fünf scheint eine elementare Wahrheit zu stecken.
In einem Punkt sind sich aber alle ganz offensichtlich einig: Grün muss es sein! Bio und korngesund, faserig, ballaststoffreich und möglichst unappetitlich. Denn wären diese gesunden Ernährungsempfehlungen tatsächlich SO lecker, müsste auf diesen Umstand nicht immer wieder hingewiesen werden. SO lecker kann gesunde Ernährung sein. Nomnomnom. Nicht!
Es ist gut und richtig auf den physiologischen Wert und auch das Schadpotential eines Nahrungsmittels zu achten. Es ist nicht gut und auch nicht richtig, die eigene Ernährung ausschließlich nach Nähr- oder Schadstofftabellen und Warnmeldungen auszurichten. Auch nicht von medialen Gesundheitsaposteln, deren einzige Lebensaufgabe darin besteht, anderen in die Suppe zu gucken. Lasst euch von niemandem ins Essen quatschen, der absolute Wahrheiten auftischen will!
Fazit
Lasst euch nicht ins Essen quatschen! Ernährung ist entgegen aller exhibitionistischer Trends eine höchst intime und individuelle Angelegenheit, es ist Privatsache und sollte dies auch bleiben. Essen ist mehr, als nur Nahrungsaufnahme. Es ist dient dem Wohlbefinden und der Lebensqualität. Es geht um Bedürfnisse und Lust, und zwar um die eigenen. Und es geht um einen realen Bedarf an esssentiellen Stoffen, an Mikro- un Makronährstoffen, der nur durch die Ernährungsform gedeckt werden kann, mit der wir evolviert sind: Nämlich die individuelle! Und das ganz ohne fremde Hilfe.
Herzlichen Dank an Sebastian „Dreckbein“ Mustermann und Sabine Brocker für die fachliche Beratung und Unterstützung bei der Recherche.
Ein Kommentar zu „Sie haben mir ins Essen gequatscht!“
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